Verlustreiche Selbstbefreiung
(...) Vietnam wandelt sich für den Briefschreiber zum Land, (Zitat:) das sich auf meiner Zunge auflöste. Er kann zur Schule gehen, studiert Literatur am College, wird schliesslich Schriftsteller. Aus der Asche der Napalmbomben bildet sich die Tinte, womit der Sohn seine zweite Haut zur ersten umschreibt. Und zwar indem er auch seine amerikanische Geschichte erzählt, wie trotz kläglicher Voraussetzungen ein menschenwürdigeres Leben aus Verletzbarkeit und Gewalt entsteht. Der Erzähler verdankt dies seiner Mutter, die mit bewundernswerter Energie und Härte gegen sich selbst im Nagelstudio für die kleine Familie das nötige Geld als Ergänzung zur Sozialhilfe zusammenkratzt. Die Grossmutter, sozusagen das Herz der Finsternis der kleinen Familie, schafft es nicht mehr. Sie dämmert allmählich in die Schizophrenie hinüber, während ihr die Obsessionen der alten Kriegsdämonen zusetzen. Die Beisetzung ihrer Asche im heimatlichen Saigon ist die berührendste Szene des Romans. Unmittelbar bevor ihre Urne in den Boden versenkt wird, klappt Little Dog seinen Laptop auf. Er ruft über Whatsapp den amerikanischen Grossvater, ebenfalls ein Vietnamkriegsveteran, an. Der Enkel fordert den völlig überrumpelten ersten Ehemann der vietnamesischen Grossmutter auf, seine tote Ehefrau am Grab zu verabschieden. Damit schliesst sich der beklemmende Kreis zwischen einstigem Aggressor und lebenslänglichem Opfer. Mehr Symbolik geht nicht. Little Dog ist kein Märchenprinz. Der Fortgang seines künftigen amerikanischen Lebens ist offen, denn er wird seine Stigmatisierung nie loswerden. Aber die Chancen, dass er mit seiner Doppelexistenz zurecht kommen wird, sind wohl intakt. Weil er das Glück und den von seiner Mutter befeuerten Mut hatte, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Vuong, der Sprachkünstler
Für Vuong gilt: je widerständiger der Stoff, desto präziser die Sprache. Er ist ein Meister des Vergleichs, des übertragenen Sinns sowie der vollendeten Metaphorik, weil seine phantastischen Sprachschöpfungen immer völlig aufgehen in der eigentlichen Bedeutung:
Irgendwie vernähte die Arbeit (auf einer Tabakfarm) einen Bruch in mir. Die Blätter flattern und landen leise tickend auf der Strasse. … Der Reis fiel von ihren Lippen wie abgesplittertes Licht.
In dieser eleganten Leichtigkeit lässt Ocean Vuong die Sprache triumphieren. Weit hinausreichend über all das himmelschreiende Elend, welches er sich vom Leib schreibt. Der vietnamesisch-amerikanische Ocean Vuong gesellt sich damit neben den Franzosen Edouard Louis. Dieser hat sich 2017 mit dem Roman Das Ende von Louis mit grösster Stilsicherheit ebenfalls schonungslos seine Kindheit im homophoben Milieu der prekären französischen Provinz vom Leib geschrieben. Vuong liefert ebenso den Beweis, dass Literatur heute noch das sein kann, was der inzwischen etwas verblasste und ausgeleierte Begriff emanzipatorisch einst bezeichnete: Radikal in der Sache und formvollendet zugleich.
Quelle: https://www.infosperber.ch/Artikel/Gesellschaft/Ocean-Vuong-Auf-Erden-sind-wir-kurz-grandios
Autor: Auszug aus Heinrich Voglers Rezension
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